Encoded Realms

Chan Sook Choi, Annette Cords, Katrin von Lehmann, Bettina Scholz, Hara Shin

05.09.2025 - 07.11. 2025

Anni Albers beschrieb den Akt des “Beginnens”, diesen Moment, in dem der Nebel der Ungewissheit noch alle möglichen Varianten verdeckt, als „Erkundung, Auswahl, Entwicklung, eine starke Vitalität, die noch nicht begrenzt ist, noch nicht durch Bewährtes und Traditionelles definiert.“ Für Albers, die eine der wichtigsten Stimmen des Bauhauses und eine Pionierin der europäischen Textilkunst war, war jeder Anfang wie ein „Abenteuer der Entdeckung“, bei dem nicht das Ergebnis, sondern der Prozess selbst im Mittelpunkt stand. Bei der Arbeit mit Maschinen und Werkzeugen zur Schaffung von Kunst trifft dies besonders zu. Oft finden KünstlerInnen einzigartige Wege, neue Technologien durch Innovation und Fehlschläge zu nutzen, wodurch das Medium zum zentralen Bestandteil des geschaffenen Kunstwerks wird. So war der Jacquard-Webstuhl eine der prägenden Erfindungen des Industriezeitalters, seine binäre Programmierweise inspirierte später die Mathematikerin Ada Lovelace dazu, 1843 den ersten Code zu schreiben, noch bevor Computer erfunden waren.

Mit der Ausstellung Encoded Realms beleuchtet Kang Contemporary die historische Verbindung zwischen der analogen und der digitalen Welt. Die in der Ausstellung vertretenen Künstler zeichnen sich durch ihre einzigartige und innovative Kollaboration mit ihren jeweiligen Materialien aus. Von Computer-Collagen, die auf Jacquard-Webstühlen gewebt wurden, über Fotografien, bei denen das Material ebenso Gegenstand wie das Bild ist, bis hin zur Verflechtung von Materialien im digitalen Raum, die vertraute gesellschaftliche Strukturen unkenntlich machen. In dieser Ausstellung wird der Galerieraum zu einem Zusammenspiel von Texturen und Materialien. Die fluoreszierenden Lichter der New-Media-Kunstwerke werden von den tiefen, verwobenen Falten haptischer Techniken absorbiert und betonen den digitalen Raum, der oft zweidimensional und unfehlbar erscheint, als dreidimensional und lebendig. Schließlich ist das Programmieren, wie das Weben, ein Abenteuer der Erforschung. Sowohl das Weben als auch das Codieren erfordern in ihren frühen Stadien ein wiederholtes „Zuhören“ auf das Material und das Akzeptieren unerwarteter Störungen, die die Gleichförmigkeit des Gewebes unterbrechen. Was steht auf dem Spiel, wenn wir unsere Welt als Textil betrachten, in dem Fasern hin und her und umeinander gewebt werden? Die Künstler dieser Ausstellung zeigen uns, dass Geschichte, Erinnerung und menschliche Beziehungen – oft als lineare Entwicklungen imaginiert – in ihrer ganzen Komplexität und ihren Überschneidungen angenommen werden können.

Chan Sook Choi betrachtet den digitalen Raum nicht als neutralen Bildschirm, sondern als materielles Feld, in dem sich soziale und historische Spannungen durch unheimliche digitale Logiken manifestieren. In ihrer Videoinstallation The Tumble (2023) dient der titelgebende rollende, vom Wind getragene Organismus sowohl als Thema als auch als Metapher. Als zufälliger Webmeister erinnert er uns daran, dass auch nicht-menschliche Akteure kreative und generative Ökosysteme gestalten. Chois frühere Forschungen führten sie nach Arizona, wo sie auf ein Archiv der Abwesenheit stieß: Anstelle von Tumbleweeds fand sie Biografien von amerikanischen Ureinwohnern, die in den USA auf vielfältige Weise marginalisiert sind. Choi legt persönliche und kollektive Geschichten frei, die absichtlich oder unabsichtlich aus Systemen, Gemeinschaften und Territorien verbannt wurden. Das Video spielt in einem verlassenen Megamarkt, dem „Phoenix Mart“. Im Laufe der Zeit ist er von Tumbleweeds überwuchert worden, die in und um das leere Gebäude herum treiben. Das zerfallende, lagerhausähnliche Innere wirkte auf Choi wie ein Friedhof des kommerziellen Handels und künstlicher Strukturen, was dem Werk eine eindringliche Resonanz verleiht. In das Werk eingebettet sind Chois anhaltende Auseinandersetzungen mit Identität, Erinnerung und Archivierungspraktiken.

Annette Cords' Tapisserien InBetween 3 (2020) und In Other Words (2022) verschmelzen Pfeile, Zahlen und Schriftzüge zu einer Collage aus Zeichen und Symbolen und rücken diese vielschichtigen Kommunikationsmittel, die oft den Hintergrund des Alltagslebens bilden, ins Rampenlicht. Sie lässt sich von ihrer unmitterlbaren urbanen Umgebung inspirieren, in der sich zahlreiche Straßenschilder, Werbeflächen, Flyer und Graffiti-Tags überlagern und ergänzen. Mithilfe von Computertechnologie übersetzt Cords diese Bildsprache zunächst in digitale Collagen und dann in Lochkarten, die schließlich eine intermediale Transformation zu Wandteppichen durchlaufen, die auf historischen Jacquard-Webstühlen gewebt werden. Im vollen Wissen um die tiefe historische Verbindung zwischen Jacquard-Webstühlen und Computern, greifen ihre Werke bewusst diese retroaktive Verbindung auf. Obwohl Cords ihre Wandteppiche umfangreich am Computer vorbereitet, beinhaltet ihr Prozess Versuch und Irrtum. Sie überprüft, löst und korrigiert immer wieder die Textur und Anordnung des Gewebes. Ihre Praxis spiegelt Anni Albers' anschauliche Beschreibung des Anfangs als grenzenlose Vitalität wider. Ihre Acrylarbeiten beinhalten ähnliche Erkundungsprozesse und schaffen abstrakte Geometrien und überraschende organische Elemente, die ein Zusammenspiel zwischen einer natürlichen und digitalen visuellen Welt hervorrufen. Wie ihre Wandteppiche stehen auch diese postindustriellen Bilder im Kontrast zum Material und offenbaren Unregelmäßigkeiten und die Einzigartigkeit, die aus handwerklichen Verfahren resultiert.

In ihrer Arbeit experimentiert Katrin von Lehmann mit Techniken der Wiederholung und des Rhythmus. „Experimentieren“ ist hier im wissenschaftlichen Sinne zu verstehen, denn in ihrer einzigartigen Praxis entwickelt sie experimentelle Paradigmen, an die sie sich in ihrem kreativen Prozess strikt hält. Auf diese Weise macht sich die Künstlerin selbst zu einer Maschine, zu einem Instrument der Praxis und Entdeckung. Gleichzeitig offenbaren ihre Kunstwerke die menschliche Fehlbarkeit, die sich im Rhythmus ihrer kontinunierlichen Wiederholung immer wieder zeigt. In ihrer Serie Oben wir unten, wird! (2025) entstehen durch das Verweben von Papier besonders faszinierende Kunstwerke. Aus der Ferne ist keine Manipulation des Papiers erkennbar, aber bei näherer Betrachtung ist das Verweben zweier Fotografien deutlich zu erkennen. Das Spiel mit dem Sichtbaren und dem Unsichtbaren ist ein zentraler Spannungsbogen, wie der Titel der Serie andeutet: Oben wird unten. Unter jeder überlappenden Reihe ist ein versteckter Faden gewebt, der für das Auge nicht sichtbar ist. Das Weben bringt eine wissenschaftliche Ordnung in die Unordnung der Natur, die auf den Fotografien dargestellt ist: ein kurzer Triumph des Menschen über das, was unmöglich zu begreifen und zu kontrollieren ist. Auch Katrin von Lehmanns Blackboard Drawing 1 (2015) spielt mit Illusion und Wiederholung. Sie entstanden aus einer von Lehmanns zahlreichen interdisziplinären Kooperationen mit Wissenschaftler:innen. Im Gespräch mit Meteorolog:innen über Wetterphänomene faszinierte die Künstlerin die Vorliebe der Wissenschaftler für Zeichnungen auf Tafeln, in denen von Lehmann eine dynamische und künstlerische Ästhetik erkannte. Die wiederholten Perforationen stören die Zeichnungen auf unkontrollierte Weise und betonen die Fragilität des Papiers.

Bettina Scholz konstruiert materielle Erkundungen durch mehrschichtige Glaskompositionen, in denen alchemistische Gesten – Tropfen, Sprühen, Schichten, Collagen – dichte bildliche Ökosysteme bilden. Inspiriert von Science-Fiction, gotischer Malerei und musikalischer Abstraktion, wirken ihre Werke sowohl kosmisch als auch mikroskopisch. Im Mittelpunkt von Scholz' Prozess steht Glas, das nicht nur als Träger, sondern auch als Filter und Rahmungsvorrichtung gewählt wird. Der Maßstab wird uneindeutig, da das Glas gleichzeitig einer Petrischale im Labor oder einem Fenster zu einer weiten Wüste ähnelt. Inspiriert von Filmmusik und spekulativen, futuristischen Erzählungen wie Blade Runner 2049 übersetzt Scholz hörbare Atmosphären in schillernde Farbtöne. Die daraus resultierenden Bildfelder sind zugleich üppig und bedrohlich: Barockartige Oberflächen knistern vor chthonischer Energie und beschwören dystopische Landschaften, die zwischen Anziehungskraft und Unbehagen schweben. Scholz' Spiel mit nebeneinander existierenden, manchmal überraschenden Gegenüberstellungen geht auf ihre Kindheit in der DDR zurück, wo ihr Leben von Widersprüchen geprägt war: Ost und West, Vertrauen und Misstrauen, Esoterik und Evidenz. In Werken wie Intro (2025) verflechten sich Pigmente und Glas über mehrere Schichten hinweg und erzeugen strukturierte Resonanzen, die warme Töne intensivieren und die atmosphärische Dichte erhöhen. Das Geflecht aus Licht, Schatten und Pigmenten schafft einen relationalen Raum, in dem jede Schicht nicht einzeln betrachtet werden kann. Zwischen Harmonie und spektraler Verfälschung überlagern sich die Materialien gegenseitig. Scholz etabliert eine Form der Malerei, die weniger Objekt als Resonanz ist, lebendig, voller Konflikte und generierender Kraft.

Hara Shin’s Praxis bewegt sich zwischen Film und Multimedia-Installation und schafft Mikro-Erzählungen, die Fragmente der Geschichte miteinander verflechten und über den Bildschirm hinaus in die analoge Welt schwappen. In feinen Konstellationen aus Menschlichem und Nicht-Menschlichem, Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft werden die Randbereiche von Erinnerung und Materie zu Orten der Untersuchung, an denen der Körper als taktiler Navigator dient, um Geschichte in der materiellen Welt zu verankern. In Monumental Ether.Bodies. (2024) stellt Shin eine dreikanalige Videoinstallation zusammen, in der sich Geschichten wie gewebte Fäden ineinander falten. An drei Orten verfolgt ihre Kamera anthropozentrische Gewalt und deren Nachwirkungen: die Kückenmühler Anstalten in Stettin, einst ein Ort der Zwangssterilisation; der Tropische Botanische Garten von Lissabon, ein lebendiges Überbleibsel kolonialer Ausbeutung; und der Tancheon-Bach in Seoul, der von lokalen Mythologien durchdrungen ist. Shins fiktive Protagonist:in der Zukunft bewegt sich durch diese vielschichtigen Orte: von den dunklen und geschlossenen Ruinen in den hellen, üppigen Garten, bis hin zum offenen und weiten Raum des Baches, über dem in der Ferne die Skyline von Seoul emporragt. Körper, Pflanzen und Architektur sind Fäden, die sich durch taktile Empfindungen miteinander verflechten, absorbieren und transformieren. Das Video reflektiert Geschichte und Erinnerung als ein sich ständig neu zusammensetzendes, aufgenommenes und transformiertes Gewebe, das sich beharrlich in die Gegenwart entfaltet und niemals verschwindet. Durch die Verflechtung bewegter Bilder bestimmter historischer Stätten verwischt Shin die Grenze zwischen Dokumentation und Fiktion und schafft eine nichtlineare Kartografie des Zusammenlebens und des Verlusts. Ergänzend zum Video präsentiert Shin eine Rauminstallation im Galerieraum. Der durchscheinende Stoff hängt wie ein Schleier zwischen den anderen Kunstwerken. Durch den Schleier wird die Sicht versperrt und der Raum neu konfiguriert. Die zentralen Themen der Ausstellung – Sichtbares und Unsichtbares, Oben und Unten sowie die Verbindung zwischen einzelnen materiellen Entitäten – werden in den Raum erweitert und beziehen das Publikum in eine verkörperte relationale Erfahrung ein. Der Galerieraum selbst wird zu einem “Encoded Realm”, in dem die Präsenz von Kunstwerken und Betrachter:innen jedes Element in einen kollektiven Code verschlüsselt.



Text Paula Böke